Monthly Archives: Februar 2013

Anastasias Geheimnis

Anastasias Geheimnis

Ich denke oft an Berlin. Ich denke oft an Anastasia.

Matthias Koranzki / PIXELIO.de

An das Haus am Nollendorfplatz, in dem ich und Pola in den Ferien bei Verwandten wohnten. Meine Freundin und ich.

Zwei Mädels vom Dorf in einer großen, geteilten Stadt. An die DDR-Polizisten, die uns zwei im Zug nach Berlin kontrollierten. Wo uns die Eltern, die uns am Bahnhof verabschiedeten, noch mit auf dem Weg gaben, dann, bloß nicht dann, ausgerechnet zu lachen.

Berlin war bunt und grell. Dieser ganz spezielle U-Bahn-Geruch, der in Erinnerung blieb. Die vielen ausgefallenen Geschäfte, die Antiquariate an jeder Ecke in Schöneberg. Das Eis in der Muschelwaffel: nie wieder gegessen.

Den Geruch im Flur des Altbaus mit den vielen Etagen. In der Mitte wohnten wir. Unten Anastasia. Das Unheimliche, wenn Anastasia, die Irre, schrie und schrie. Meine Freundin und ich lagen in unseren Betten und konnten nicht mehr einschlafen. Wir hatten Angst und zugleich Mitleid.

Anastasia wohnte Parterre und es ging kein Weg an ihr vorbei. Wir haben sie nie zu Gesicht bekommen, doch unsere Tante erzählte uns, wie schön Anastasia einst war. Mathematikprofessorin. Wohlhabend. Dann kam irgendwann das Unglück. Der Geliebte ging fort und der Wahnsinn kam. Sie warf nachts Kruzifixe aus dem Fenster. Schrie und weinte. Sie wurde weggebracht und irgendwann, Wochen später, zurückgebracht. Verstört, blass, still.

Wir Mädchen jagten im Treppenhaus immer an ihrer Tür vorbei. Aus Angst, dass Anastasia mal in der Tür stehen und uns in ihre Wohnung ziehen könnte. Es roch ganz komisch an ihrer Treppe. Und als uns die Tante einmal schickte, Anastasia Kuchen vorbeizubringen, sträubten wir uns. Trauten uns nicht. Die Tante ging dann selber, wie jeden nachmittag, und kam mit einem leeren Teller wieder zurück, von dem wir nie wieder aßen. So sehr wir sie auch löcherten, nie erzählte sie uns mehr von ihr, als wir schon wußten. Für mich war Anastasia blond und schön. Immer in einem langen Nachthemd und großen irren Augen.

Jahre später erzählte uns dann die Tante, dass sie Anastasia abgeholt hätten. Sie kam nicht wieder und die Wohnung mußte aufgelöst werden. Vor dem Haus wurde ein riesiger Container abgestellt und Sachen und Möbel hineingeschmissen. Eine verbeulte, rote Emailledose war auch darunter. Die Tante nahm sie als Erinnerung mit. Als sie die Dose öffnete, fielen ihr sorgfältig gebündelte Briefe entgegen, ohne Kuvert, alle mit Tinte geschrieben an „meine geliebte Anastasia“. Die Tante zeigte uns die Briefe nur in der Dose. Nie die ganzen Briefe. Sie lagen all die Jahre mit der gleichen, zerdrückten, blau verschossenen Schleife darin. Auch die Tante hatte sie nie gelesen. Nur ein Gedicht, das lose in der Schachtel lag und ein Iwan unterschrieben hatte:

„Ich will nichts weiter sein, als die Zeder vor Deinem Haus, als ein Ast dieser Zeder, als ein Zweig dieses Astes, als ein Blatt dieses Zweiges, als ein Schatten dieses Blattes, als ein Wehen dieses Schattens, der eine Sekunde die Schläfe dir kühlt.“

Iwan Goll, Malaiische Lieder

Blogtext: Copyright by Sine

 

So einer wie Kolateck

So einer wie Kolateck

Ganz anders als wir.

Martin Müller / PIXELIO.de

Klein, dick, dünne fettige Haare. Wurstfinger.

Statt einer Schultasche trug er immer eine Aktentasche bei sich. Braun und speckig. Alt sah er aus. Viel älter als wir. Von weitem wie ein Lehrer, mit seinem Seitenscheitel. Er stand immer abseits von allen.

In den Pausen wurde er mit Apfelkitschen beschmissen oder geschubst. Doch Kolateck störte das überhaupt nicht. Er lächelte nur und schüttelte nachsichtig den Kopf. Trotzdem hatte Kolateck was. Doch was, das konnte niemand richtig sagen. Vielleicht, weil er allen ein bißchen unheimlich war, mit seinem glasigen Blick und der ewig schweissnassen Stirn. Und doch suchte man manchmal seine Nähe. Dann, wenn man selbst auch mal am Rand stand, weil man jemanden verpetzt hatte oder nichts von seinen Süßigkeiten abgeben wollte. Dann ging man zu Kolateck und Kolateck verstand einen immer. Er fummelte dann mit seinen Wurstfingern aufgeweichte Bömse aus seinem Blouson oder zeigte einem ellenlange Wahrscheinlichkeitsberechnungen, die er aufgeschrieben hatte. Die Lehrer mochten Kolateck nicht. Weil er alles besser wußte und auch ganz einfach erklären konnte.

Dann war Kolateck eines Tages verschwunden. Es wurde viel geredet. Es wurde erzählt. Mal war er in der Psychiatrie gelandet, mal wurde er in der Stadt bei den Junkies gesehen. Er kam nie wieder. Aber manchmal denke ich immer noch an Kolateck, der so ganz anders war als wir.

© Sine