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Von Schmetterlingen und Kastanien

Von Schmetterlingen und Kastanien

Sie kommt mir entgegen. Vor dem Supermarkt. Humpelnd, schaukelnd. Gestützt auf den Rollator.

Löwenzahn / pixelio.de

Der hölzerne Gehstock mit dem abgenutzten Griff schaut aus einer Seitentasche heraus. Tante Lulas Beine sind dick umwickelt. Jeder Schritt tut ihr weh. Trotzdem diese warmen, braunen Augen. Weisheit im Blick.

Ein Lächeln auf den Lippen als sie mich sieht. Tante Lula sagt, sie sei wie ein morscher Baum im Herbst.

Kalt ist es. Windig. Welke Blätter wirbeln um uns herum.

Sie erzählt von den Enkelkindern. Die Enttäuschung des Mädchens, dass die Oma vergessen hat zwei Kalenderblätter umzuschlagen. Schließlich war der Kalender selbst gebastelt. „Vergessen,“ sagt Tante Lula und schüttelt über sich selbst den Kopf.

Dann erzählt sie von dem Schmetterling. In der Kirche. Bei einer Beerdigung. Dämmriges Licht. Der Pastor noch nicht da. Die Gemeinde wartet. Hüsteln. Räuspern. Rascheln. Kalter Kirchengeruch. Traurigkeit hängt über allem. Die Urne vorne ganz allein. Drinnen die Christa. Auch der Witwer allein. In der ersten Reihe.

Dann, mit lautlosem Flügelschlag, der bunte Schmetterling. Er fliegt ohne Umschweife aus der Sonne draußen, direkt durch die offene Kirchentür ins Dunkle. Alle Leute schauen. Es ist stiller als still. Der Schmetterling, gelb, ganz gelb, setzt sich sacht auf die nackte Haut des Witwerkopfes, der die Begegnung nicht bemerkt. Nach ein paar Flügelschlägen fliegt der Schmetterling wieder zurück in die Wärme und ins Licht.

Und Tante Lula fragt: Gibt es das?

Ich antworte nicht. Lächle sie an.

Sie greift in ihre Tasche und holt eine Kastanie hervor. Sie betrachtet sie. „Bringt Glück“, sagt sie und reicht sie mir.

Ich greife in meine Tasche. Auch da eine Kastanie. Ich reiche sie ihr. „Bringt Glück“, sage ich zu Tante Lula. Sie lacht, steckt die Kastanie in ihre Tasche und greift nach meiner Hand. Beide Hände: ganz warm.

Wildwechsel

Wildwechsel

Morgendämmerung. 4 Grad zeigt das Thermometer im Auto. Philipp Poisel im Radio und ich in Gedanken.

Montagmorgenträgheit.

Trotzdem schnell. Plötzlich sehe ich etwas Braunes aus den Augenwinkeln. Links, am Straßenrand. Da springt auch schon das Reh. Bremsleuchten vom roten Golf vor mir. Ein Knall.

Der Wagen fährt weiter. Das Reh springt nicht mehr. Es bleibt zuckend auf der Fahrbahn liegen. Ich bremse. Der Wagen vor mir hält.  Niemand steigt aus. Stille. Die schwarzen Augen des Tiers geweitet. Helle Stippen im Fell. Der Brustkorb hebt und senkt sich. Hebt und senkt sich.

Warnblinken. Warndreieck.

Dann laufe ich zum roten Golf. Eine alte Frau steigt nun aus. Erschrocken. Sie zittert. Ihre Augen wie die des Rehs. Dunkel und ängstlich. Scherben überall. Ich ziehe die Frau zum Straßenrand. Tröste sie, umarme sie ab und zu. Schiebe sie auf den Beifahrersitz..Telefoniere.

Die Augen des Rehs dahinten gehen mir nicht aus dem Sinn. Ich würde gern seinen Kopf halten und ihm zuflüstern: „Alles nicht so schlimm“. Wie zu der alten Frau. Die hält aber gerade meine Hand. Ganz fest. Kalt ist uns beiden.

Dann kommt ein Mann.  Er fuhr wohl hinter mir. Jäger. Er fragt nach einem Messer. Wozu ein Messer, denke ich, als ich die Antwort schon weiß.

Kein Messer da.

Da stirbt das Reh mit den dunklen Augen und den hellen Stippen im braunen Fell. Der Mann zieht es in den Straßengraben. Blut auf dem Asphalt. Die Frau weint.

Als ich viel später ins Auto steige, zeigt das Thermometer 6 Grad. Die Sonne geht auf und ich fahre weiter.