Sie dachte an Rico und Paris und das Café L´Escale an der Rue Rouquier.
Wie jedes Jahr, immer am 15. Juni.
Ein lautes Klicken. Raues Weckerklingeln folgte. Sie wartete auf ein leises Schnaufen neben sich im Bett, seine leisen ersten Schritte.
Statt dessen die Geräusche eines laufenden Wasserhahns, das Rauschen der Toilettenspülung und dann eine Dusche. Telefonklingeln. Rico´s leise Stimme.
Im Kühlschrank schepperten Flaschen aneinander. Eine Weile war nichts mehr zu hören, außer leiser Musik von Leonard Cohen. Dann brodelte eine Kaffeemaschine vor sich hin und ein Toaster klackte. Im Hintergrund surrte ein Rasierapparat. Danach das Zünden eines Feuerzeugs.
Später klimperten Schlüssel aneinander und eine Tür fiel ins Schloss.
„Allein“, dachte sie. „Ein anderes Meer“.
Sirenengeheul in der Stadt. Ein Auto mit laufendem Motor. Sie zählte bis zehn, dann fuhr es erst davon
Hundegebell.
Regen auf der Fensterscheibe und Wind in den Bäumen.
Sie tastete nach seinem T-Shirt auf der kalten Betthälfte und kroch damit noch tiefer unter die Decke. Es roch nur noch ganz schwach nach ihm.
Sie dachte an Rico und Paris und das Café L`Escale. An den braunen Mosaikboden, dem wuchtigen, altmodischen Tresen und den Lampen, die die Himmelsrichtungen anzeigten.
Sie erinnerte sich an den Geruch von Heimat und Fernweh zugleich. Nach Brotkasten und Meer, obwohl das Meer weit weg war. Eigentlich wäre sie jetzt dort und Rico auch, wie immer, wenn sie ihren Jahrestag feierten. Das Café besaß auch ein Gästezimmer. Nur ein einziges. Zimmer 156. Sie hatten gestaunt, dass es gerade diese Nummer besaß, wo doch auch ihr Feiertag aus genau diesen Zahlen zusammengesetzt war. Später nahmen sie es als Geheimnis oder Bestimmung hin. Das Zimmer gehörte einfach zu ihnen.
Polternde Schritte, die die Treppenstufen heraufeilten. Das dumpfe Knallen einer Tasche im Flur.
Gleich würde er zurück ins Schlafzimmer kommen. Rico, der in der Halsbeuge, in der kleinen Kuhle über dem Schlüsselbein, nach Sand und Rauch duftete.
Sie wartete auf das Öffnen der Tür. Sein Lachen. Darauf, dass er ihr die Bettdecke wegziehen würde, um nach ihren Füßen zu angeln und sie zu kitzeln.
Statt dessen wieder das laute Klicken des CD-Players.
Stille.
Sie dachte an die Stelle an der Seine, ganz in der Nähe des Café´s L´Escale. An den Mauern des Kais waren schwere Eisenringe befestigt. Wenn man sie anhob, konnte man noch die rostigen Abdrücke sehen, die sie im Laufe der Zeit an den Steinen hinterlassen hatten.
Früher waren dort einmal Boote angebunden, die nach einer langen Reise Halt machten, um dann wieder weiter zu reisen.
Das Scheppern, wenn man die Eisenringe wieder zurückschnellen ließ, hallte noch in ihren Ohren. Am letzten Ring, dem rostigen, weit hinten, hatten sie im vergangenen Jahr ein buntes Taschentuch gebunden. Ganz sacht schlug er nun gegen die Kaimauer.
Sie schaltete den CD-Player wieder an.
Noch einmal schrillte ein Wecker, rauschte ein Wasserhahn, die Toilettenspülung. Dann die Dusche, das Klingeln des Telefons. Sie strich mit dem Finger über die CD-Hülle. „Don´t be afraid!“ war mit rotem Filzstift darauf gekritzelt. Das Ausrufungszeichen dahinter war als übergroßes Dreieck gemalt und der Punkt zu einem Kreis verschmiert.
Sie spulte weiter bis zu der Stelle, an der Rico´s Schritte zu hören waren, die die Treppenstufen herauf eilten. Das Knallen der Tasche im Flur.
Sie malte sich aus, wie sich das bunte Taschentuch flatternd im Wind vom Eisenring löste, an dem nie mehr ein Schiff festgemacht würde.
Sie wartete nicht mehr auf die Stille danach, sondern stand leise auf.
© copyright 2010 Sabine Mense