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Reiserufe

Reiserufe

Irgendwann unterwegs kam mir in den Sinn, dass es wohl kaum noch Reiserückrufe gibt.

Ganz früher konnte man das oft hören, diese Stimme nach den Nachrichten im Radio:

„Und hier noch ein Reiseruf: Herr Paul Kruse, unterwegs nach Hamburg, in einem orangen Ford Capri mit dem amtlichen Kennzeichen:

BE für Beckum, PK 306. Herr Paul Kruse möchte sich bitte dringend bei seiner Schwester melden.“

Man stellte sich vor, wie ein Paul Kruse wohl aussähe. Pauls hatten für mich immer dunkle Haare. Pauls waren groß und irgendwie spröde. Sie trugen orthopädische Sandalen und waren merkwürdig unscheinbar. Sie konnten ganz speziell und mitreißend lachen, lasen Karl May und rauchten Ernte 23.

Pauls mußte man einfach mögen. Ich habe nie andere Pauls kennengelernt. Da nicht und später auch nicht. Pauls waren so. Was machte ein Paul also in Hamburg? Kaufte er Kaffee? Unternahm er eine Städtereise? War er auf der Flucht? Vielleicht war Paul Kruse auch ein Bankräuber? Oder war er verliebt und seine Liebste wohnte in Hamburg? Warum sollte er sich bei seiner Schwester melden und dann auch noch dringend? Das konnte sich mein kleiner Bruder so überhaupt gar nicht vorstellen. Ich mir auch nicht. Und was war mit den Eltern von Paul Kruse? Hatte er womöglich keine mehr und was war mit seinen Freunden? Suchten sie ihn nicht? Hatte er sich mit ihnen gestritten? Aber nein, Pauls streiten sich selten. Weil Pauls sind die gutmütigsten Menschen, die man sich denken kann. Ein bißchen langsam vielleicht, aber welche, auf die man sich verlassen kann. Pauls holen einen raus. Und zwar von überall. Es dauert halt nur ein bisschen. War er unterwegs, um einen Freund aus der Klemme zu helfen?

Auf jeden Fall passte der orange Ford Capri nicht zu Paul Kruse. Pauls fuhren Opel und nicht Ford. Der Wagen steht dem Paul gar nicht. Da waren wir Geschwister uns einig dahinten, hinter den Eltern, auf unserem Rücksitz des goldfarbenen Granadas irgendwann in den 70ern.

Unterwegs hielten wir Ausschau nach einem orangen Ford Capri um Paul zu sagen, dass er sich lieber in Hamburg zusammen mit seiner Liebsten bei einem Tschibo-Kaffee und einem anständigen Fischbrötchen einen grauen Opel zulegen solle. Dringend! Egal, was seine Schwester dazu sagt.

Wer weiß, vielleicht wollten ihm das schon ganz viele sagen und genau deshalb starteten sie diesen Reiseruf …

 

New York meets Backcountry

New York meets Backcountry

Heute morgen im Auto: die neue CD von Joe Bonamassa.

Eingelegt und aufgedreht. Gehört, gestaunt, gewundert.

Gewundert was ein Musiker alles erreichen kann. Einen Bungee-Jump in Noten ausdrücken. Dass man morgens um 7 im Auto hellwach ist, weil der Blues im Herzen bebt. Dass es da jemanden gibt, einen 34jährigen New Yorker, der mit seiner Musik, seiner Gitarre, seinen Songtexten ausdrücken kann, was in den Spähren des Blues los ist. Der eine Frau, die älter ist als er und im Dörflichen lebt, genau damit berührt. Trifft.

New York meets backcountry.

Ich fühle mich genauso wie der Musiker, weiß, was er meint, auch ganz ohne Songtext. Die Musik trifft mit voller Wucht,Temperament und Leidenschaft. Da geht die Post ab!

Lest mal:

Driving towards the daylight,
running from the midnight,
trying to get my way home.
Running from the spotlight,
trying to find the daylight,
trying to get back home.

Hört doch mal:

Joe Bonamassa \“Driving Towards The Daylight\“ Official Music Video auf You Tube

 

 

Von Wolhyniern, glaffen und pesern

Von Wolhyniern, glaffen und pesern

Meine Großeltern und deren Eltern und Vorfahren stammen aus Wolhynien. Wolhynien liegt in der heutigen Ukraine.

Meine Urahnen wanderten dorthin aus, weil sie da Grund und Boden fruchtbar machen sollten. Zuerst hausten sie dort sogar in Erdhöhlen. Des Schreibens und Lesens kaum mächtig enstand eine Kauderwelsch-Sprache, ein Misch-Masch aus Polnisch, Russisch und deutschen Akzenten.

Manche Worte fließen sogar heute noch ab und an in meinen Wortschatz ein, was manchmal zur Belustigung beiträgt.

Somit hier und heute ein kleines Quiz:
Wer weiß, was „pesern“ heißt im Wolhynischen oder was es bedeuten könnte?

Die ersten Teinehmer mit der richtigen Lösung gewinnen eines meiner Anthologie-Bücher.

Also los, nicht bei Google „stipulieren“ und „glaffen“, sondern raten, raten, raten. (Antwort hier eintragen)

Das Bett im Schrank

Das Bett im Schrank

Ich hatte immer ein Bett im Schrank. Wunderbar gemütlich in der Nacht und unsichtbar bei Tag. Nach dem Schlaf schnürte man das Bettzeug mit drei Halteriemen zusammen und klappte das Bett einfach in den Schrank. Dann zog man den Vorhang davor und niemand ahnte etwas davon. Kein anderes Kind hatte so ein Zauber-Bett und es ließ sich so wunderbar darin lesen.

Büchereien gab es nicht in unserer Nähe.

Nur verstaubte Schulbüchereien mit verwaisten 50er-Jahre Büchern. Ich las und liebte sie trotzdem. „Guten Tag, Stäubchen“ ( passend zur verstaubten Schulbücherei …) war eines davon. Oder ´“Hilde die Wilde“.

Kinderbuch aus besseren Tagen

Im Klappbett konnte man sich prima verstecken. Der Bruder schnallte mich mit den Gurten auf der Bettdecke fest und klappte das Bett um.

 

Weg war ich.

Dunkel war es und unheimlich da im Schrank. Ich dachte an die schaurigen Kapitel in Büchern und machte sie dahinten im Schrank zu Happyends. Das „Ausderweltklappen“ war schön. Aus der Welt sein. Kostbare Momente, wie man sie sich heute manchmal wünscht.

Das Klappbett besitze ich nicht mehr.

Dafür aber noch die alten Bücher. Mit original Schokoflecken darin.

Irgendwo in Orsoy

Irgendwo in Orsoy

terramara / pixelio.de

Ein Bild von terramara / pixelio.de

… am Rhein gibt es eine Kneipe. Wie früher. Nur ohne Rauch. Mit vielen toten Vögeln an den Wänden und Schifferklavieren auf Hockern. Man kommt hinein und fühlt sich trotzdem heimelig und ein Stückchen zuhause. Trotz der toten Vögel. Trotz der Farben.

Das uralte Sofa ist ausgeleiert und durchgesessen. Aber wunderbar gemütlich. Mit  Holzschnitzereien. Man versinkt in den Polstern und es wackelt bedenklich. Herzlicher Empfang. Draußen Regen. Schlagermusik wird aufgelegt. Lampen mit warmem Licht angemacht. Die Musik passt zu den Vögeln und dem Fuchs an der Wand. Die Wirtin hat zu schwarze Haare. Ganz rote Lippen und rabenschwarz geschminkte Augen. Ein bisschen unheimlich. Freundlich ist sie aber und fragt, wo wir herkommen. Und wie wir sie gefunden haben. Das kann unsere Gruppe ganz einfach erklären. Hatten wir es doch nicht weit. Direkt gegenüber, das Quartier. So schön, dass ich schon Pläne mache für ein nächstes Mal. Wir sitzen da also, bei Musik und heißem Kakao aus bunten Tassen. Meine ziert ein Katzenkind….Kitschig-lieb.

Auf dem Weg zur Toilette gehe ich an einem alten Herd vorbei. Darauf Eingemachtes in Gläsern. Kirschen und Pflaumen. Wie bei Oma. Alte Puppen sitzen unter der Garderobe und es riecht nach alten Zeiten.

Am Tisch neben uns Senioren, die Rouladen essen. Hausmacherart. Es duftet herrlich. Die Tür geht auf und Oma Janzen kommt mit dem Rollator herein. Großes Hallo. Sofort nimmt sich die stämmige Dame an der Theke, die mit den nachgezogenen Augenbrauen, der Dame an. Diese bestellt auch das Mittagsgericht und ich wundere mich, wie schnell sie es genüßlich verputzt. Die Dame mit den gemalten Augenbrauen stößt mich an, ich drehe mich zu ihr und sie sagt: „Hätten Sie gedacht, dass Oma Janzen schon 94 ist?“ Ich verneine und staune. Oma Janzen lacht und bestellt noch eine Extra-Portion Hollandaise nach. Die stämmige Frau geht in die Küche und holt sie. Nicht die Wirtin.

Dazu noch ein Probiertellerchen mit Fleisch für den Mann mit Bart auf dem Barhocker am Eingang.

Am Tresen ein Einsamer mit resigniertem Blick. Er beobachtet die Gäste. Der Dicke neben ihm will kein Gespräch. Er schüttet das Bier lieber allein in sich hinein und zieht sich dauernd sie Hosen hoch und stellt ein Bein lässig unten auf die Fußstütze.

Gäste kommen durch die Küche von draußen herein. Man kennt sich. Man erzählt sich. Von dem, der gegenüber wohnt. Dem die Musik, die Kneipenmusik, zu laut ist. Und die Kirchenglocken auch. Die Kirchenglocken müssen schon schweigen ab 10. Und die Musik, schon Tradition, jetzt auch. Nichts mehr mit einem spontanen Ständchen auf dem Schifferklavier zum Frühschoppen. Aber Duisburg ist nicht weit. Und die Leute aus dem Pott, die halten zusammen. Unterschriften sammeln sie jetzt. Und wir gehören ja auch mit dazu. Wir haben ja gesagt, dass es uns hier gefällt. So unterschreiben wir. Und kommen bestimmt wieder. Es ist schön. Und es bleibt ein warmes Gefühl an diese Erinnerung zurück!

An die Wirtin, an Frau Janzen, dem Einsamen und den anderen. An einem Mittag im Juni in Orsoy!

Chuck LeMonds: Golda´s Ukelele

Chuck LeMonds: Golda´s Ukelele

Ein Ohrwurm, der einem nicht aus dem Kopf geht, ein Text, der einem nicht aus dem Sinn geht.

Chuck LeMonds schafft das, mit ganz bescheidenen musikalischen Mitteln. Gestern kam ein Päckchen für mich an, mit der bestellten CD: Ganz bescheiden ohne Titel. Nur sein Name.

Man fühlt sich von der Musik umarmt. Sofort gefangengenommen. Sehr authentisch. Man merkt, dass der Singer und Songwriter seine Wurzeln in den USA ( Wisconsin) hat.

Richtung Blues, Jazz, Country, Folk. Eine weiche Stimme, wunderbare Gitarrenstücke. Den Sänger konnte ich zusammen mit Gottfried Gfrerer im April beim Spiekerooger Jazz-Festival kennenlernen. Auch dort fiel er mit einem Song „Mary K.“ sofort auf.

Doch Golda´s Ukelele ist eindeutig mein Lieblingssong auf der CD.
Texte wie diese:

It tells stories, hears your secrets whispers softly in your ear you´re loved, my little darling when I´m close or far from here …

Hier könnt ihr mal in die Songs auf der letzten CD von Chuck LeMonds hineinhören.

Texte wie diese beeindrucken mich sehr und die wunderbare Musik dazu. Man wünscht sich mehr davon. Eine tolle Entdeckung. Ein wunderschöner Glasstein, den ich da gefunden habe!

Mehr zu Chuck LeMonds: www.chucklemonds.org  Dort kann man auch die CD bestellen!
Foto:  © Spiekerooger Jazzfestival 2012

Fietsen, Frieten und Voetbal

Fietsen, Frieten und Voetbal

 

Man muss sie einfach gern haben die Niederländer. Sie haben zwar einen ganz speziellen Fahrstil, können ein bisschen gut Fußball spielen 😉 , dafür aber so gar nicht kochen. Doch die Frieten schmecken sehr gut. Jedoch nur in Ein hollandsche FietsHolland.

Aber dass ich die Niederlande so liebe (ik hou van Holland), kommt daher, dass ich erst einmal die Sprache so klasse finde. (Die vielen -tjes am Ende vieler Worte, diese ganz besonderen „Ch“-Laute, so ganz tief aus dem hinteren Rachenbereich gesprochen und irgendwie auch ihr Eigensinn („eigenzin“) und ihr Stil, machen sie für mich so sympathisch. Klietzeklein ist vieles. Manche Häuschen sind nur 4 Meter breit. Piepklein, wie der Niederländer sagt.

Mehr als „piepkleinduimpje“ (daumengroß“ ) ist jedoch das Selbstbewußsein der Niederländer. Sie stehen zu ihrem Oranje-Spleen. Gestern noch mit  orangenen Perücken in siegesgewisser Partystimmung. Ausnahmezustand. Leere Plätze, früher geschlossene Läden, keine Möwen weit und breit. Heute alles anders. Aber alles noch viel oranger.

Ich mag viele ihrer Autoren und die Landschaft sowieso. Mit dem „fiets“ durch Zeeland zu radeln und dann ein „biertje“ op een terrass drinken: was gibt es Schöneres?

Ach ja: Glockengiebel, Treppengiebel und Häusernamen lesen. Oder mit einem piepklein- Bötchen unter Brücken hindurchfahren.

Dabei ganz tief ducken, sonst Beulen!

Killefitt und Gedöns

Killefitt und Gedöns

Ich finde dieses Wort so schön: Killefitt. Und überhaupt: ich stehe auf Killefitt.

So Gedöns, so Kleinigkeiten, Stehrümchen. Der Trödelmarkt in Hamm ist so eine Fundgrube für Killefitt und Gedöns. Brauchen tut man es nicht. Aber das Stöbern, das Entdecken und später das Besitzen oder Benutzen ist so wunderbar. Meine Killefitt-Ausbeute gestern: wunderschöne uralte Blechknöpfe, Halstücher (nicht uralt, aber wunderschön) und anderes Gedöns. Bücher! Was ich mit den Knöpfen machen werde, weiß ich überhaupt noch nicht. Aber sie fassen sich so schön an und wer weiß, wozu ich sie einmal benötige. Und Halstücher kann man nie genug haben. Ein Weißes mit türkisen und lila Mustern habe ich noch nicht in meiner Sammlung. Und die ist groß.

Ich bin also niemals ohne Tuch und Buch.

Schnickschnack und Killefitt. Aber in schönen Farben, bitte schön.

Gerbrand Bakker in der Stiftsbuchhandlung

Gerbrand Bakker in der Stiftsbuchhandlung

Gerbrand Bakker las nicht nur: er zog alle in seinen Bann mit seiner offenen Art und seinem feinen Humor. Eine sehr interessante Persönlichkeit, der seinem Publikum locker gegenüber trat und es niemals überforderte, sondern immer zu Fragen ermunterte und gern erzählte.

Die Buchhandlung Maschmann bot den perfekten Rahmen, der einfach gut zum Autoren passte. Dieser nahm lässig auf einem Barhocker Platz und sprach über sein neues Buch und gab auch Besonderheiten preis, wie es zu einzelnen Passagen kam und was er in Wales, dem Ort der Handlung, erlebte. Dazu noch ganz unbescheiden der Hinweis von ihm : so ein Buch kann jeder schreiben …

Was natürlich niemals sein kann. Denn ein Bakker ist ein Bakker ist ein Bakker.

Diese Andeutungen und diese Zwischenzeilen und die „Luft“ im Buch, wie er es nannte, sind einfach einzigartig.

Besonders schön war natürlich auch die Erzählung über „Petra“, der ängstlichen, scheuen Buchhändlerkatze des Ehepaares Maschmann. Diese Kolumnen, die auch im Buch „Komische Vögel“ von Bakker veröffentlicht wurden, zeigen  seine hervorragene Beobachtungsgabe und seine Liebe zur Natur und den Tieren.

Ein sehr sympathischer Autor, sehr nette Gastgeber, eine wunderschöne Buchhandlung und Literatur, die zu Herzen geht: was will man mehr?

Dass Gerbrand Bakker noch sehr viele Bücher schreibt!

 

Coming out

Coming out

Ich lebe in einem Dorf. Ich weiß, wie so was sein kann. Da braucht man nicht homosexuell zu sein. Da reicht es, wenn jemand neu ist. Oder anders. Mehr nicht.
Heute gelesen:
Ein Dorfbäcker verkauft seine Brötchen nicht an einen Schwulen. 20 Jahre alt ist „der Schwule“. Bei der freiwilligen Feuerwehr engagiert. Engagiert bei der Landjugend. Rettungssanitäter von Beruf. Also einer, der viel tut. Für die Gemeinschaft. Den Mitmenschen. Auch im Dorf. Seine Eltern haben ihn zuhause rausgeschmissen. Nach seinem Coming out. Auch für sie nicht mehr der Sohn. Sondern „der Schwule“. Der Dorfbäcker und die anderen sagen: „Der ist schwul.“ Das muss wohl was Schlimmes sein? Jedenfalls so schlimm, dass man damit nichts zu tun haben will. Auch nicht mit dem eigenen Sohn. Der ist eben anders. Andersrum. Der versucht noch, Kontakt zu halten. Zu seinen Eltern. Im Dorf. Hinter der Grenze. Aber die Mutter spricht nur noch gelegentlich mit ihm. Das Dorf liegt hier ganz in der Nähe. Und doch so weit weg. Grenzgänger. Hoffentlich gibt es viele Grenzgänger. Die die Türen, die Grenzen offenhalten. Für den Mitmenschen. Egal, wie anders er ist.
Für ein Coming in!

Artikel im Blickpunk-Warendorf 20/2012Den Zeitungstext könnt Ihr nachlesen: Blickpunkt.
Ausgabe 20. Mai. Seite 2 www.blickpunkt-warendorf.de

Wenn Ihr den Artikel dort nicht findet, kann ich Euch auch gern eine Kopie per Email zusenden.
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