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Isidor: ein jüdisches Leben

Isidor: ein jüdisches Leben

Ich weiß selbst, was ich zu tun habe.

Bleiben!

Selten blieb ein Buch so in der Erinnerung, wie das Debüt der Autorin Shelly Kupferberg.

Anhand von Briefen, Fotos und Tagebucheinträgen ihres Urgroßonkels Isidor  lässt sie den Leser teilhaben an einer  eindrucksvollen Familiengeschichte. Sie beginnt in ärmlichen dunklen Hütten irgendwo in  Ostgalizien und spannt sich über Budapest nach Wien, Tel Aviv und Hollywood.

Auf 246 Seiten schafft es die Autorin, den Leser mitzunehmen und Isidor zu begleiten bei seinem rasanten Aufstieg, seiner Karriere und seinem Leben in den  obersten Kreisen in Wien. Man kann das Buch nur schwer aus der Hand legen. Es übt eine Faszination aus, die sich nur schwer beschreiben lässt.

Isidor heißt eigentlich Israel und seine Geschwister Rubin und Fejge. Auch sie ändern ihre Vornamen. Isidor studiert nicht nur, sondern er möchte etwas werden. Er promoviert, arbeitet aber nebenher im Lederhandel und ist sehr geschäftstüchtig. Während des ersten Weltkrieges macht er sein Geld im Schwarzmarkthandel und ist bereits nach dem Krieg Millionär. Zwei Ehen zerbrechen und er zieht allein in ein prächtiges Stadtpalais in WIen. Dort lernt er eine faszinierende ungarische Sängerin kennen die nicht auch letztendlich durch Isidor eine steile Karriere starten kann, die sie bis nach Hollywood führt.

Dr. Isidor Geller ist nun Kommerzialrat, Berater des österreichischen Staates, Opernfreund und Kunstsammler. Er wähnt sich in Sicherheit, selbst als sein Neffe ihnt warnt: „Onkel! Hitler kommt nach Wien und wird dir gegenüber im Hotel Imperial wohnen. Warum bist du nicht geflüchtet?“.

„Ich brauche deine Ratschläge nicht, ich weiß selbst, was ich zu tun habe“.

Schon am Nachmittag stand die Gestapo vor der Tür des Onkels und Isidor wurde verhaftet und abgeführt. Nach drei Monaten Haft ist er ein psychisches und körperliches Wrack. Gedemütigt, gequält auf grausamste Weise. Er entkommt dieser Hölle nur, da er in einem der Folterer seinen ehemaligen Klassenkameraden erkennt und ihn bittet, ihn gehen zu lassen. Völlig verarmt, da er gezwungen wurde, sein Vermögen den Machthabern zu überschreiben. Verraten und verkauft auch von ihm einst nahe stehendem Personal und Freunden. Sein Neffe konnte gerade noch nach Palästina auswandern. Das Silberbesteck für 24  Personen ist das einzige, was an Materiellem gerettet werden konnte.Bis zuletzt schrieb er auch der Geliebten, aber auch sie kehrte nicht mehr zurück.

Wer sich nun fragt: Und das Reh? Es taucht ganz zum Schluss am Grab Isidors auf

„Das Reh und ich, wir bleiben wie angewurzelt stehen“.

Ein Buch, kaum als Roman zu beschreiben, sondern als Lebensgeschichte, das man nicht so schnel vergisst! Bereichernd!

Shelly Kupferberg ist  Journalistin und Moderatorin und lebt in Berlin.

Ich danke dem Diogenes Verlag herzlich für die Vorab-Zusendung des Leseexemplares.

 

Von Heldinnen

Von Heldinnen

Mit Doris Dörrie reisen

Diogenes Verlag

Ich war also in San Francisco, in Kyoto und in Marrakesch mit Doris Dörrie.

Und wo war es am schönsten? In Japan. Weil mich die Geschichte um Tatsu so sehr berührt hat. Es gibt so viele Heldinnen in Doris Dörries Roman. Auf dem ersten Blick sind sie erst einmal keine. Und auf dem zweiten und dritten Blick um so mehr:

Tatsus Familie aus Japan. Die Frauen, die sich mit Tauchen ohne Atemgerät nach Meeresfrüchten  ihren Lebensunterhalt verdienen. Tatsu, die studiert und dann nur noch vorgibt zu studieren und bei einer deutschen Familie hängenbleibt um deren Haushalt in Ordnung zu halten und die Kinder zu beaufsichtigen. Die kugelrund und nicht dürr ist. Die sich in Wolle, den Familienvater, verliebt und er sich aber nicht in sie und schnell für Ersatz sorgt, nachdem Tatsu flüchtet.

Dörrie kann das so wahnsinnig gut beschreiben. Ohne viel Worte und doch so treffend. Diese Trauer, die Enttäuschung. Dazwischen flicht sie immer wieder eigene Erlebnisse ein. Auch die Schriftstellerin selber scheint in jungen Jahren in einer toxischen Beziehung festgesteckt zu haben. Beeindruckend empfand ich auch die Szene in Marrakesch oder sonstwo, wo ein viel älterer Mann mit einem jungen Mädchen an einem Restauranttisch draußen sitzt und die Erzählerin beobachten kann, wie übermächtig der Mann ist und wie die junge Frau um seine Gunst kämpft und er sie herablassend behandelt vor allen Leuten. Die Heldin, Dörrie, provoziert den Mann, als sie bemerkt, wie fies er mit der Frau umgeht. Es kommen Erinnerungen in ihr hoch, wie sie selbst einmal so von einem Mann behandelt wurde und unfähig war, sich zu wehren, oder ganz einfach zu gehen.

In einem anderen Kapitel beschreibt sie den Fastabsturz eines Flugzeuges, in dem sie sitzt. Auch Heldinnen haben Angst. Todesangst.

Das Buch lässt sich super lesen. Es ist eins der persönlichsten Bücher von Doris Dörrie.

An manchen Stellen und Passagen merkt man zwar, dass es vielleicht so „heruntergeschrieben“ wurde. In manchen Passagen ist aber ganz und gar nicht so. Einzig der Humor steckt manchmal fest. Kommt spröde herüber. Aber ansonsten ein tolles Buch. Als Fan von Doris Dörrie unbedingt zu empfehlen. Außerdem bekommt man Lust, die besonderen Spezialitäten auch einmal auszuprobieren, wie die salzigen Pflaumen. Dörrie schreibt eben sehr sinnlich.

Herzlichen Dank dem Diogenes Verlag, der mir das ebook zur Verfügung gestellt hat!

 

 

Lesen ist wie schaukeln

Foto: wolla2 / Pixelio.de

 

Ich lese gerade von Ocean Vuong:

„Auf Erden sind wir kurz grandios“.

Der Hanser Verlag hat mir dieses besonders schöne Buch freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Und ich muss sagen: Das Buch IST grandios. Und das nicht nur kurz. Ich genieße es. Bald mehr dazu.

Kennt Ihr noch das Gefühl, wenn man auf dem Spielplatz schaukelt und am höchsten Punkt aus der Schaukel springt? Dieses Gefühl in der Luft?

Oder als Ihr Euch auf der Turnstange festgehalten habt und dann  vorwärts habt herunterfallen lassen und eure Haare schwenkten im Sand?

Das Kribbeln im Bauch, ganz oben auf dem Klettergerüst zu stehen?

Die Momente auf der Rutsche, bis ihr dann unten angekommen wart? „Nochmal, nochmal“. Und genauso geht es einem manchmal beim Lesen eines besonderen Buches. Das Genießen eines einzelnen tollen Satzes, die Erkenntnis etwas Besonderem.

Das ist so schön und mit Worten kaum zu beschreiben.

Und so geht es mir gerade beim Lesen dieses Buches. Ich bewundere die Sprache!

Deshalb: schaukelt oder lest. Vielleicht habt Ihr ja sogar einen Schaukel-Lesestuhl!

 

In der Mitte des Liebeslebens

In der Mitte des Liebeslebens

Daniela Krien:

Die Liebe im Ernstfall

Diogenes Verlag,  2019

 288 Seiten, 22 €

 

Fünf Frauen: Paula, Jorinde, Brida, Judith, Malika.

Leipzig. Fünf Frauen in der Mitte des Lebens. Fünf ganz besondere Persönlichkeiten verwoben und verstrickt in Affären, Ehe- oder Beziehungsproblemen. In Sinn- und Moralfragen. Alle schleppen Altgepäck aus ihrer Kindheit und Jugend mit sich herum. Alle haben Erfahrungen in der Liebe.

Was bedeutet es Mutter zu sein? Und was bedeutet es, keine Kinder zu haben, aber welche zu wollen?Oder welchen Preis bezahlt man dafür, sich selbst verwirklichen zu wollen? Oder für eine Entscheidung?

Erst dachte ich, die Themen seien abgedroschen. Auch alle Namen im Buch kommen einem so unecht vor. So, als hätte die Autorin in einem Vornamenbuch geblättert und die schönsten herausgesucht. Man hat kein Gesicht zu den Namen, weil man fast niemanden mit diesen Namen kennt (außer Judith und Paula und vielleicht bin ich  auch einfach zu alt, um diese Namen zu kennen). Oder kennt jemand eine Frau die tatsächlich Xandrine heißt?)

Aber das macht nichts. Die Figuren überzeugen durch den sehr präzisen Blick der Autorin. Besonders gelungen fand ich auch die Struktur des Romans und dass die Protagonistinnen alle miteinander verbunden waren. Entweder als Freundinnen, oder verwandtschaftlich. Daniela Krien verbindet geschickt ihre Schicksale. Ihre  Probleme und Sorgen, ihren Alltag, ihre Vorlieben und Leidenschaften waren sehr gut getroffen.

Ein tolles Buch, das mir sehr gefallen hat. Ein Buch das berührt und das man nicht so schnell vergisst

Vielen Dank an den Diogenes Verlag für die Zusendung des Rezensions-epubs.

 

Abendrot

Abendrot

Traurigschön

 

Auch das dritte Buch des amerikanischen Autors Kent Haruf hat mich wieder sehr beeindruckt.

Es spielt wieder in der fiktiven Stadt Holt und einige Figuren begegnen einem wieder. Man meint sie schon lange zu kennen. Raymond, Victoria, Rose. Aber auch alle anderen kommen einem sehr nah und das ist die Kunst von Kent Haruf. Die Kunst in einer kargen Sprache ganz viel zu erzählen. Die Zwischenzeolen und das nicht ausgeschrieben sprechen Bände. Dazu der besondere Stil der Zeitlosigkeit, die alle Romane von Haruf ausmachen.

Abendrot

Cover: Diogenes Verlag

 

Selbst die Beschreibungen der Häuser oder Wohnmobile, Schuppen oder Arztpraxen sind karg, aber doch so treffend gezeichnet, dass man meint, selbst die Gerüche drinnen wahrnehmen zu können.

 

Raymond mit seinem eisengrauen Haar, einer, der arbeitet ohne zu klagen auf seiner einsam gelegenen Farm. Nun ohne seinen Bruder, der beim Einpferchen der Tiere von einem Bullen attackiert wird und bald danach stirbt. Victoria, mutterseelenallein und nun selber Mutter und Studentin und Ziehtochter von Raymond.

DJ, der seinen Großvater versorgt. Völlig selbstlos und in Dena eine Freundin findet. Und einen Schuppen, um sich zurückzuziehen von der Welt da draußen, bei Kerzenschein, kaltem Kaffee und Büchern.

Rose, die Sachliche, die Sozialarbeiterin, die so viel gibt und doch gegen Windmühlen ankämpft und auch Schwäche zeigt und diese in den Armen von Raymond zeigen kann.

Dazwischen Seiten, so brutal, dass man fast nicht weiterlesen kann. Die Eltern von Ritchie und Joy Raye, die machtlos sind gegen die Gewalt ihres Großonkels. Kaum auszuhalten, diese Gewalt. Kaum auszuhalten das Nichtwehren, Nichteinschreiten der Eltern.

Die letzten Seiten des Buches habe ich immer langsamer gelesen, weil ich die Figuren nicht zurücklassen wollte. Weil ich nicht wollte, dass mich die  Figuren verlassen. Und weil ich weiß, dass der Autor Kent Haruf nicht mehr lebt. Ich nicht weiß, ob es noch einen Band geben wird. In der Presse wird stets darauf hingewiesen, dass es sechs Bücher von Kent Haruf gibt. Bis jetzt habe ich drei gelesen:

„Unsere Seelen bei Nacht“, „Lied der Weite“ und „Abendrot“. Alle drei sind ganz besondere Bücher, die man nicht so schnell vergisst.

An dieser Stelle auch ein herzliches Dankeschön an den Diogenes Verlag, der mir wieder ein Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat!