An Tagen wie diesen, wenn der Himmel grau und der Regen nicht lange auf sich warten ließ, an Tagen wie diesen, war Gustav glücklich.
Donnerstags war er immer glücklich. Egal bei welchem Wetter.
Oliver Mohr / PIXELIO.de
Er zog sich seine Regenjacke über, steckte die Zigarrillos für Henny in die Tasche und verließ den Wohnbereich 2 des Altenheimes.
Draußen ging er vorbei am Kriegerdenkmal und vor der Kirche über die Ampel zum Lebensmittelmarkt. Er blickte durch die große Glastür in den Laden, doch als er Körtens Mia und Schlingmanns Sefa plauschend vor der Brottheke entdecke, beschloss er, sich ohne seine geliebten Kirschstreusel auf dem Weg zu machen. Unterwegs schaute er sich ein paar Mal um, ob ihm nicht die aufdringliche Körtens Mia folgte. Haare schwarz wie Pech und Augenbrauen wie Bremsspuren. Unglaublich schnell konnte sie sein, die Körtens Mia. Aber nur außerhalb ihrer Station im Heim und auch nur, wenn sie Gustav entdeckte. Den charmanten, grauhaarigen Gustav mit den buschigen Augenbrauen. Von Weitem rief sie dann:
„Chustav, Chustav, bliff doch moal stohn!“
Bei unter einer Stunde Stehenbleiben kam man bei ihr aber nicht weg. Gustav ließ sich nie aufhalten. Nicht von Körtens Mia. Nicht vom Rest der Welt. Nicht donnerstags. Er tastete in seiner Manteltasche nach den Puritos für Henny. Er kaufte sie immer in der 5er Box für 4 € 50: Romeo y Julieta No. 2.
Zwanzig Minuten konnte er sich dann daran ergötzen, wie Henny rauchte. Sie sah sinnlich aus damit. Ihr Blick in den Himmel und der Geruch des aromatischen Tabaks ließen ihre Treffen so besonders werden. Obwohl Henny einen Rollator benötige, so hatte sie doch einen stolzen, geraden Gang. Groß war sie und schlank und man ahnte, welch Dorfschönheit sie einst war. Ihr krauses, fast weißes Haar trug sie kinnlang und ihre blauen Augen waren wie der Himmel am Wasser des Prypjat. Der Fluss, an dem Gustav als Kind spielte. Vor der Flucht aus Wolhynien.
Klug war Henny außerdem und hätte man sie gefragt, was im Leben Zufall ist, so hätte sie sich nach einer Kastanie gebückt, sie auf die Straße geworfen, gewartet bis ein Auto darüber fährt und zurückgefragt: „Zufall?“
Mit Henny verging die Zeit langsam und trotzdem schnell.
Im Schatten der Pfarrkirche war das kleine Backhaus beleuchtet und Gustav freute sich schon auf den nächsten Krinkabend. Am alten Schlosshof, der früher eine Kneipe war und davor eine Pension, machte er eine kurze Pause. Gustavs Herz war nicht mehr das Beste. Er blieb stehen und schnaufte. Dann ging er langsamer weiter. Unter dem großen Saal des Schlosshofs war früher ein kleiner Blumenladen untergebracht. Dort hatte er immer samstags frische Nelken für seine Dorle gekauft.
Dorle war nun schon lange tot und der Blumenladen stand leer. Gustav genoss jetzt den Blick auf das Schloss vor ihm, das man von Weitem etwas sehen konnte. Ockergelb und elegant versteckte es sich hinter Bäumen und einem schmiedeeisernen Tor. Er liebte den Anblick. Gustav überquerte dann die Straße an dem hölzernen Wegekreuz und ging noch ein ganzes Stück. An einer Einmündung musste er noch einmal die Straßenseite wechseln. Er spazierte entlang der vielbefahrenen Straße und bog dann einen verborgenen Weg rechts ein, direkt in den Wald. Die Liese, ein kleiner Bach, begleitete ihn links und je näher er der uralten Eiche kam umso mehr klopfte sein Herz.
Wie jeden Donnerstag.
Wie jeden Donnerstag im Juli.
Wie jeden Donnerstag im August.
Wie jeden Donnerstag im September.
Um 17 Uhr.
An der Holzbrücke.
Bei der Eiche.
Henny.
Wenn er diesen unscheinbaren Weg einschlug, ließ er alles hinter sich. Das Dorf, das Altenheim, seine Sorgen, seinen Alltag.
Foto: Benedikt Brüggenthies
Gustav konnte schon die Blätter im Wind hören, die knorrige Eiche, die schon so lange dort stand. Er sah Henny von Weitem. Sie trug ihre blaue Jacke und ihre Haare wehten im Wind. Sie lehnte mit dem Rücken am Brückengeländer und stützte lässig ein Bein am Geländer ab. Ihren Rollator hatte sie neben der Bank stehen lassen.
Jung sah sie aus. Schön sah sie aus.
Ein dünner, kleiner Mann mit Schirmmütze und einem Schäferhund an der Leine kreuzte sein Blickfeld. Er kam ihm auf dem schmalen Weg entgegen und blickte prüfend über seine Brille. Er grüßte und der Hund schnüffelte im Vorbeigehen an Gustavs Hosenbein. Ein kurzer Gruß und ein paar Worte über das Wetter, dann gingen sie auseinander. Endlich betrat er die Holzbrücke.
„Henny“, grüßte er.
„Gustav“, lächelte sie.
Er umarmte sie und roch den vergehenden Sommer in ihrem Haar.
„Ich habe Dir auch etwas mitgebracht. Schau“. Er griff in seine Manteltasche und nestelte umständlich die Zigarilloschachtel hervor. Henny öffnete die Verpackung sofort und roch mit geschlossenen Augen an den Positos.
Sie hakte sich bei Gustav unter und beide gingen zur Sitzbank. Henny zündete den Zigarillo an und wenn Gustav jemand gefragt hätte, wie Glück riecht, so hätte er gesagt, nach Romeo y Julieta No.2
Henny schaute in den Himmel und rauchte. Zwanzig Minuten sagten sie gar nichts.
Dann räusperte er sich und fragte leise: „Denkst du noch oft an Paul?“
Henny drückte den Zigarillostumpen auf dem Boden aus und suchte nach einem Hustenbonbon in ihrer Handtasche. Sie steckte es sich in den Mund und faltete das Bonbonpapier klein und kleiner, um es anschließend wieder aufzufalten.
„Ja. Paul hatte mein Versprechen und ich seines“.
Sie schwiegen. Nur das Blätterrauschen der uralten Eiche war zu hören. Gustav betrachtete Hennys Hände. Der rechte kleine Zeigefinger stand etwas krumm ab und auf ihren Handrücken entdeckte er Altersflecken. Die gepflegten Nägel ihrer Hände waren kurz geschnitten und er stellte sich vor, wie sich sein Gesicht in diese Wärme schmiegte. Zeit war nie unendlich.
Henny würde gleich aufstehen und gehen. Ihren Rollator und ihr Lächeln mitnehmen und ihn zurücklassen mit niemandes Wort, niemandes Versprechen. Sie würde dahin gehen, wo sie wohnte. Da, wo die beiden Bäume so nahe zusammenstanden, dass sie von Weitem aussahen, als wären sie ein Baum.
Und während er dies dachte, nahm Henny seine Hand in ihre Hand. Und während er vieles dachte und staunte, blies der Wind etwas stärker und die Blätter raschelten noch lauter. Und während er immer noch dachte, dass jetzt das Wetter umschlägt und die Zeit und der Regen kommt, da bemerkte er es:
Der matte, goldene Ring an ihrer linken Hand, den sie sonst immer noch trug, fehlte. Gustav schaute in Augen, die so blau waren wie der Himmel am Wasser des Prypjat. Er dachte an die zwei Bäume, die so aussahen wie nur einer und dann blickte er in den Himmel, der an Tagen wie diesen grau war. Der Regen ließ immer noch auf sich warten und dann sagte Gustav:
„Auch ich hatte Paul ein Versprechen gegeben. Als Paul ahnte, dass seine letzte Reise beginnt. Ich habe ihm versprochen, auf dich aufzupassen.“
Stille umfing sie. Seltsame Stille. Kein Rauschen der Blätter. Kein Wind. Leise setzte ein sanfter Regen ein. Er fühlte, dass Hennys Hand noch immer in seiner lag.
Und als beide nach einer Weile aufstanden und sich auf den Weg machten, ließen sie sich auch da nicht los.
Copyright: Sine
Foto: Benedikt Brüggenthies
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