Author Archives: sine

Tagesende

Tagesende

Am Tagesende macht sich Müdigkeit breit.

 
Traurigkeit! Zwei Menschen, die ich schätzte, ja, verehrte, sind nicht mehr da. Der eine schon alt. Der andere in der Mitte des Lebens.

 

„Wenn ein Mensch stirbt, verbrennt eine ganze Bibliothek“. Sagt man.

Am Tagesende sind da die Gedanken. Über das Sterben. Über die Würde.

R_K_B_by_Heavy-Blues / PIXELIO.de

Ich schreibe über Marcel Reich-Ranicki.

 Ich schreibe über Wolfgang Herrndorf.

Marcel Reich-Ranicki: er war alt, er war krank. Er liebte die Literatur. War Autor, Journalist, Kritiker.

Wolfgang Herrndorf war längst nicht alt, erst 48, aber er war krank. Er liebte die Literatur, die Worte.

 Schriftsteller. Wortkünstler. Herztreffer.

Der eine kauzig, der andere geheimnisvoll. Intelligent beide.

Marcel Reich-Ranickis Buch:“Mein Leben“ so beeindruckend. Wolfgang Herrndorfs Buch „Tschick“, ein wunderbarer Roadmovie. So berührend, so komisch, so traurig. Ein Buch, das niemals enden sollte. Von dem man sich wünscht, es immer wieder zum ersten Mal lesen zu können.

Welche Geschichten hätten noch erzählt werden können!

Der alte Mann ist gestorben. Der jüngere Mann ist tot, aber nicht gestorben. Er hat sich erschossen. Das macht mich wütend. Nicht die Tatsache, dass sich ein Todgeweihter erschießt. Dem Krebs zuvorkommt. Sich das Leben nimmt. Sondern die Tatsache, dass es in diesem Land nicht möglich ist, Geschichte hin oder her, selbstbestimmt und in Würde sein Leben beenden zu können. Einschlafen dürfen.

Wolfgang Herrndorf schrieb in seinen letzten Einträgen in seinem Blog: „Arbeit und Struktur“, dass er nicht vermessen sein wolle, aber sich danach vielleicht ein kleines Metallkreuz aus zwei schlichten Schienen wünsche, an der Stelle am Kanal, dort, wo sein Leben letztlich auch endete.

Die Sonne geht immer hinter der Düne unter, die Dir gerade am nächsten ist“. ( Afrikanisches Sprichwort und von Wolfgang Herrndorf an einen Freund übermittelt, um einen Preis entgegenzunehmen auf der Leipziger Buchmesse).

Ich habe ein Kettchen. Mit einem winzigen Anhänger. Einem Kreuz. Bei meinem nächsten Besuch in Berlin werfe ich es in einer Abendstunde in den Hohenzollernkanal. Es wird seinen Weg schon finden!

 

Nahaufnahme

Nahaufnahme

Giulia Maria Weide/ PIXELIO.de

Seit langem habe ich sie mal wieder gesehen.

 Das Mädchen mit den langen braunen Haaren und der Brille.

Sie geht so langsam und ich mag ihre Stimme und ihr Lachen nicht. Ihr Hintern ist dick und das grüne T-Shirt  verwaschen. Unsicher ist sie. Fast schüchtern. Ganz anders. Ihren Freund schaut sie oft an. Da weiß sie noch nicht, dass das Glück nur noch vier Jahre hält. Dass dann alles anders wird. 

Die ganz große Liebe wird noch kommen und wieder gehen, wie ihre Träume. Ein altes Haus wird eine Rolle spielen. Sie wird enttäuscht und belogen werden. Aber sie wird auch lachen. Lauter als damals. Echter. Ehrlicher. Herzlicher. 

Das Mädchen mit den braunen Haaren und der Brille wird Talente in sich entdecken, viele Freunde finden. Weiter träumen. Weniger reisen, mehr schreiben.

Ich drücke die Pause-Taste des DVD-Geräts.

Nahaufnahme: Die Augen, der Blick des Mädchens. Sie halten mich fest. Sie lassen tief blicken.

Damals. Jetzt.

Das Mädchen mit den braunen Haaren. Das Mädchen, das ich war.

 

© Sine

 

 

Nicht umsonst

Nicht umsonst
Nicht umsonst

 

O ja, ich will nicht umsonst gelebt haben wie die meisten Menschen. Ich will den Menschen, die um mich herum leben und mich doch nicht kennen, Freude und Nutzen bringen. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“ (Zitat: Anne Frank)

 Sie fiel sofort auf, als sie an der Hand ihrer Mutter an der Elbe entlang spazierte.

Ganz anders als andere Mädchen sah sie aus. Kein rosa an ihr. Kein Kitsch. Ernst blickte sie aus dunklen Augen. Ich war mir sicher, sie war es. Es konnte nur sie sein. Sie strahlte eine Würde und Selbstsicherheit aus, obwohl sie vielleicht gerade acht Jahre alt war. Ihr aufrechter Gang faszinierte mich. Sie trug ein nostalgisch aussehendes geringeltes Strickkleid in matten Farben und am Kragen baumelten kleine, senffarbene Bommel. Die nackten Füße steckten in Sandalen.

Der Clou war jedoch ihr Hut! Er sah aus, wie ein altmodischer Herrenhut mit schmaler Krempe. Unter dem hellen Strohhut lugte das schwarze Haar des Mädchens hervor, das sie zu einem Bob geschnitten trug. Oben hatte der Hut  einen Kniff und um den Kopfteil hatte das Mädchen ein glitzerndes rotes Band gebunden.

Ich schaute dem Mädchen nach und konnte meinen Blick kaum lösen und war mir ganz sicher, dass sie es war. Anne Frank! Ich zwinkerte ihr zu, als Zeichen, dass ich sie erkannt habe und sie weiter fortlebt und nicht vergessen wird. Das Mädchen ließ sich jedoch nichts anmerken. Drehte sich jedoch noch einmal nach mir um. Dann war sie auch schon im Trubel verschwunden.

Viel später dann, als ich an der Elbe entlang weiter spazierte, fand ich etwas Glitzerndes im Gras.

Es war ein rotes, langes, glitzerndes Band.

© Sine

Im Terzo di San Martino

Im Terzo di San Martino
Im Terzo di San Martino

 

Es regnet in Siena. 

  Im Terzo di San Martino hasten die Menschen über den Platz. Im Laufen halten sie Taschen oder Einkaufstüten über den Kopf. Warme Regentropfen auf meinen Beinen. Es riecht nach vergehendem Sommer und ich nehme langsam Abschied von der Stadt.

Ich bleibe mitten auf dem Platz stehen und halte mein Gesicht in den Regen, der wie tausend Tränen mein Gesicht wäscht. Der Himmel ist grauer als grau und ich will den Moment festhalten. Spüren, wie die Nässe durch meine Jacke dringt, spüren, wie meine Haare schwerer werden und sich an den Kopf schmiegen.

Plötzlich hält ein schwarzes, großes Auto neben mir. Die hintere Tür wird geöffnet und ein junger Mann springt heraus. Im Laufen spannt er einen Schirm auf.

Dann ist er bei mir, drückt mir den Schirm in die Hand: „Prego, Signora“, zieht die Schultern hoch, läuft zurück und springt wieder in den Wagen, der bald um die nächste Ecke verschwindet.

Ich schicke ihm ein erstauntes Lächeln durch den Regen hinterher und bewundere den Schirm, dessen Unterseite in zarten Regenbogenfarben bespannt ist.

Grazie!

© Sine

Mit James Dean in Borken

Mit James Dean in Borken

Sine war da!

Auf Einladung des Literaturkreises Borken habe ich im Rahmen der „Literatur-Session“ zwischen Kaffeeklatsch und Tatort am Sonntag zwei Kurzgeschichten vorgelesen.

Literatur-Session Borken

„Sternstunden mit James Dean“ und „Ars amandi:

zum Lesen verführen“.

Es hat viel Spaß gemacht, die Borkener zu verführen und die anderen Autoren, Musiker, Vortragende und Mitwirkende haben zu einem gelungenen Nachmittag im wirklich wunderschönen Ambiente des Stadtmuseums dazu beigetragen, dass sich die vielen Gäste und Zuhörer wohl fühlten und sich auf die verschiedenen Texte einließen.

Diese Termine sollte man sich wirklich vormerken: es lohnt sich!

Mehr unter:

www.leselust-borken.de

 

 

Sine live

Sine live

 

Lizzy Tewordt / PIXELIO.de

Sine on tour!

Am 26. Mai, zwischen Kaffeeklatsch und Tatort, findet eine Literatursession des Borkener Lesezirkels statt, zu der ich auch eingeladen wurde, zusammen mit anderen Autoren.

Also: am 26. Mai um 17 Uhr im Stadtmuseum Borken!

Ich werde dort zwei Texte vortragen!

Wir sehen (hören) uns?

www.leselust-borken.de

Heartbreaker

Heartbreaker

Berggeist007 / PIXELIO.de

Herr Schröder ist etwas Besonderes! 

Schöner geht´s nicht, denke ich stets, wenn ich ihn sehe. 

Diese Augen! Diese Figur! Dieses Haar! Dieser Blick!

Einfach umwerfend. Herrn Schröder könnte ich nichts, aber auch gar nichts, abschlagen. Ein Blick genügte und sein Wunsch wäre mir Befehl. Herr Schröder ist mein Schwarm. Er ahnt das wohl. Geht aber ganz souverän damit um. Verehrerinnen hat er schließlich genug. Er ist geheimnisvoll, aber niemals arrogant. Er ist wild, sieht aber ganz harmlos aus. Er ist edel und intelligent. Was würde ich geben, einmal, nur einmal, mit ihm, Seite an Seite, spazieren zu gehen. Einen nachmittag ihm nah sein. Ihn verwöhnen. Über den Kopf streichen, ihn mit Kosenamen überhäufen: Mein Bärli, mein Zuckerle, mein Herzallerliebster. Ich würde ihm Leckereien in den Mund schieben und ihn an der langen Leine lassen. Bei mir hätte er es gut, der Herr Schröder.

Doch Herr Schröder will nicht. Er gehört schon zu jemandem. Nämlich zu Frau Schröder-Pösentrup. Sie ist Witwe und hat nicht nur Haare auf den Zähnen, sondern auch auf der Oberlippe. Herr Schröder liebt sie trotzdem. Das sieht man. Und wenn Frau Schröder-Pösentrup ruft: „Schröder! Schröder! Wird´s bald?“, dann fühlt sich Herr Schröder nicht ernsthaft angesprochen. Erst bei einem gefährlichen „Herr !! Schröder !!“ (und Frau Schröder-Pösentrup hat eine schneidende Stimme und rollt das „R“), wird´s was.

Dann hebt er elegant sein Bein und pinkelt an die Laterne. Herr Schröder ist ein wunderbarer Hund. Selbst beim Pinkeln verliert er nie seine Eleganz. Denn Herr Schröder ist ein Weimaraner. Mit Bernsteinaugen und graubraunem Fell.

Herr Schröder ist ein Heartbreaker!

Und weiß das auch!

 

© Sine

 

Ein Engel in Warschau

Ein Engel in Warschau

Es ist 1942. Die Deutschen beginnen, Juden aus dem Warschauer Ghetto in Konzentrationslager zu deportieren. Engel gibt es wenige. Doch einer ist da und hat einen Namen: Irena.

Irena schmuggelt. Irena fälscht. Irena betäubt. Irena lügt. Irena kämpft. Irena verschleppt.

Irena hat Mut. Irena ist Irena. Irena kann nicht anders. Sie gibt vor, Seuchenkontrollen durchführen zu müssen, da sie beim Sozialamt arbeitet. Und rettet so mit ihren Helfern jüdische Kinder aus dem Ghetto. Nicht eines, nicht zehn, nicht hundert:

 2500 Kinder.

Durch stinkende Kanäle. Im Müll. Betäubt in Kisten, Säcken, Särgen. Manchmal muß sie die Kinder aus den Armen der schreienden Mütter reissen, die sich dann doch nicht von ihren Kindern trennen können. Ahnten sie wohl, sie nie wiederzusehen. Die Kinder, die gerettet werden, werden unter falschen Namen in Klöstern, Waisenhäusern oder bei guten Menschen untergebracht.

Doch irgendwann fliegt auch ein Engel auf. Irena wird verhaftet. Ihr werden beide Arme gebrochen. Sie wird gefoltert. Doch sie verrät nichts. Niemanden. Keinen einzigen Namen. Kein einziges Kind. Die Gestapo findet auch ihre Marmeladengläser nicht. Unter dem Apfelbaum vergraben. Darin die Namenslisten der Kinder, um sie später mit ihren Eltern zusammenzuführen. Doch viele Eltern überleben den Holocaust nicht.

Der Engel wird zum Tode verurteilt. Doch durch Bestechung wird sie gerettet. Offiziell jedoch ist der Engel tot. Und Irena heißt jetzt anders und versteckt sich. Bis der Krieg vorbei ist.

Irena ist alt. Irena Sendler  (1910-2008) wird erst 2007 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Doch bekommen hat ihn Al Gore.

© Sine

 

Kraniche

Kraniche

 

Susanne Mankel / PIXELIO. de

Und wieder ziehen die Kraniche 

ihr „V „durch die Weite des Himmels

Im Herbst noch

winkten wir ihnen

zum Abschied.

Heute winke ich ihnen

allein

und wünsche mir

den Frühling

und die Liebe zurück!

© Sine

Anastasias Geheimnis

Anastasias Geheimnis

Ich denke oft an Berlin. Ich denke oft an Anastasia.

Matthias Koranzki / PIXELIO.de

An das Haus am Nollendorfplatz, in dem ich und Pola in den Ferien bei Verwandten wohnten. Meine Freundin und ich.

Zwei Mädels vom Dorf in einer großen, geteilten Stadt. An die DDR-Polizisten, die uns zwei im Zug nach Berlin kontrollierten. Wo uns die Eltern, die uns am Bahnhof verabschiedeten, noch mit auf dem Weg gaben, dann, bloß nicht dann, ausgerechnet zu lachen.

Berlin war bunt und grell. Dieser ganz spezielle U-Bahn-Geruch, der in Erinnerung blieb. Die vielen ausgefallenen Geschäfte, die Antiquariate an jeder Ecke in Schöneberg. Das Eis in der Muschelwaffel: nie wieder gegessen.

Den Geruch im Flur des Altbaus mit den vielen Etagen. In der Mitte wohnten wir. Unten Anastasia. Das Unheimliche, wenn Anastasia, die Irre, schrie und schrie. Meine Freundin und ich lagen in unseren Betten und konnten nicht mehr einschlafen. Wir hatten Angst und zugleich Mitleid.

Anastasia wohnte Parterre und es ging kein Weg an ihr vorbei. Wir haben sie nie zu Gesicht bekommen, doch unsere Tante erzählte uns, wie schön Anastasia einst war. Mathematikprofessorin. Wohlhabend. Dann kam irgendwann das Unglück. Der Geliebte ging fort und der Wahnsinn kam. Sie warf nachts Kruzifixe aus dem Fenster. Schrie und weinte. Sie wurde weggebracht und irgendwann, Wochen später, zurückgebracht. Verstört, blass, still.

Wir Mädchen jagten im Treppenhaus immer an ihrer Tür vorbei. Aus Angst, dass Anastasia mal in der Tür stehen und uns in ihre Wohnung ziehen könnte. Es roch ganz komisch an ihrer Treppe. Und als uns die Tante einmal schickte, Anastasia Kuchen vorbeizubringen, sträubten wir uns. Trauten uns nicht. Die Tante ging dann selber, wie jeden nachmittag, und kam mit einem leeren Teller wieder zurück, von dem wir nie wieder aßen. So sehr wir sie auch löcherten, nie erzählte sie uns mehr von ihr, als wir schon wußten. Für mich war Anastasia blond und schön. Immer in einem langen Nachthemd und großen irren Augen.

Jahre später erzählte uns dann die Tante, dass sie Anastasia abgeholt hätten. Sie kam nicht wieder und die Wohnung mußte aufgelöst werden. Vor dem Haus wurde ein riesiger Container abgestellt und Sachen und Möbel hineingeschmissen. Eine verbeulte, rote Emailledose war auch darunter. Die Tante nahm sie als Erinnerung mit. Als sie die Dose öffnete, fielen ihr sorgfältig gebündelte Briefe entgegen, ohne Kuvert, alle mit Tinte geschrieben an „meine geliebte Anastasia“. Die Tante zeigte uns die Briefe nur in der Dose. Nie die ganzen Briefe. Sie lagen all die Jahre mit der gleichen, zerdrückten, blau verschossenen Schleife darin. Auch die Tante hatte sie nie gelesen. Nur ein Gedicht, das lose in der Schachtel lag und ein Iwan unterschrieben hatte:

„Ich will nichts weiter sein, als die Zeder vor Deinem Haus, als ein Ast dieser Zeder, als ein Zweig dieses Astes, als ein Blatt dieses Zweiges, als ein Schatten dieses Blattes, als ein Wehen dieses Schattens, der eine Sekunde die Schläfe dir kühlt.“

Iwan Goll, Malaiische Lieder

Blogtext: Copyright by Sine