Warum ich heute zu spät nach Hause kam und auch keine Brötchen mehr bekam:
Da war sie wieder. Die alte Frau beim Bäcker. Mit ihrem Rollator sitzt sie stets in der Kaffeebar des Supermarkts. Wieder die bunte Jacke. Wieder diese dunklen, wachen Augen. Heute war ich spät dran. Die alte Dame stand schon draußen unter dem großen Vordach. Es regnete in Strömen und sie zog die Regenhaube tiefer ins Gesicht. Ich grüßte sie wie immer. Schickte ein Lächeln durch den Regen zu ihr. Ein kurzer Gruß. Ein paar Floskeln über das Wetter. Und dann erzählte sie. Einfach so. Aus ihrem Leben vor langer Zeit. Damals in Oberschlesien. Ich bemerkte ihren Dialekt und konnte mir vorstellen, wie schön sie früher war. Jetzt waren ihre Beine dick und sie klagte über Asthma und Schmerzen. Aber nur kurz. Dann erzählte sie wieder von früher und ich staunte. Und hörte zu. Wir standen im Regen und der Wind zerrte an meinen Haaren. Aber das war egal. Sie erzählte von ihren Kindern. Weit weg. Von den Anrufen der Enkel. „Tante Lula“, sagen sie. Und Tante Lulas Augen lachen ganz still. Die alte Frau sagte, dass die Enkel sagen, dass sie sicher schon Alzheimer hätte. „Aber“, sagte sie, „das ist gar nicht so schlimm. Ich erinnere mich an alles. An die Flucht, an das Lager, an die Morde, an den Hunger. An eine Heimat weit weg und nicht mehr da. Ich erinnere mich an alles. Soviele Geschichten im Kopf. Auch nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Nur was gestern war, was vorgestern: das weiß ich nicht.“
Tante Lulas Augen lachten. Ich fasste ihren Arm und sie nahm meine Hand. Für ein paar Sekunden standen wir einfach nur so da. Hand in Hand. Unsere Augen lachten. Dann gingen wir auseinander. Ich sah der kleinen Gestalt nach, die soviel erlebt hatte und hoffe, dass sie mich morgen wieder grüßt und mich nicht vergessen hat.